9. Juni . Nationaltheater
Sage noch einer, als Opernbesucher erweitere man nicht ständig seinen Bildungshorizont. Sicher, man kennt den Namen des Arztes Dr. Ignaz Semmelweis, doch erst über die im September 2017 konzertant in New York uraufgeführte Oper »Semmelweis« des Komponisten Raymond J. Lustig beschäftigt man sich stärker mit Leben und Werk des ungarischen Chirurgen und Geburtshelfers. Insbesondere, wenn der nicht des Ungarischen mächtige Besucher der szenischen Erstaufführung im Rahmen des Bartók Plus Opera Festival in Miskolc – fast punktgenau zum 200. (Wolfgang Kutscbach – Das Operanglas, September 2018)

Geburtstag des am 1. Juli 1818 in Budapest Geborenen – wenig Informationen über das Stück erhält: Weder eine Inhaltsangabe im Programmheft, noch Übertitel in englischer Sprache erleichterten den Zugang zu dem hier ins Ungarische übersetzte Libretto von Matthew Doherty. Glücklicherweise machte Martin Boross in seiner Inszenierung die einzelnen Stationen im Leben des Arztes plakativ und selbsterklärend für den Zuschauer verständlich.

Sein Verdienst um die Erklärung der hohen Sterblichkeit am Kindbettfieber in den öffentlichen Kliniken im Vergleich zur privaten Entbindung mutet heute kurios und makaber an. Schuld daran war die damalige Arbeitsweise der Ärzte, die nach pathologischen Untersuchungen ohne Händewaschen oder gar Desinfektion auch gynäkologisch tätig waren. Trotz des Erfolgs der von Semmelweis erlassenen Vorschrift einer Desinfektion und der darauf deutlich gesunkenen Sterblichkeitsrate wurden seine Arbeiten nicht anerkannt. Im Gegenteil, er wurde von seinen Kollegen angefeindet, wohl auch, weil er wenig diplomatisch Kollegen und ranghöhere Mediziner öffentlich Mörder nannte.Sein Leben endete kurz nach Zwangseinweisung in die Psychiatrie in Wien, wo er aber nicht eines natürlichen Todes gestorben sein soll.

Im eher von Stimmungen und philosophischen Betrachtungen aus der Sicht von Semmelweis als von einer kontinuierlich fortschreitenden Handlung geprägten Libretto werden in 21 Abschnitten Gedanken über Leben, Wunder der Geburt, Verzweiflung und Veränderung der Wahrheit thematisiert. Dazu hat Lustig in 75 Minuten eine sehr intime, zurückhaltende, stark in der Tradition verankerte Musik geschrieben. Die Titel der einzelnen Nummern spiegeln bereits das Geschehen wider: „Ätiologie“, ein Zwischenspiel auf der Orgel für die Beschäftigung mit den Ursachen für das Entstehen einer Krankheit, „Beste Idee“ für Semmelweis’ Erkenntnis, „Meines Doktors Hände“ für den von reinen Doktorhänden singenden Chor, „Archäologie“ für Semmelweis’ geflüsterte Betrachtungen über die lebendigen Straßen Wiens und den veralteten Operationstisch, „Wissenschaftlicher Streit“ als fast unhörbar leises Orchesterstück, „Dunkle Schmach“ als Klage über den Misserfolg und den Wunsch auszuwandern oder „Eureka“. Es ist eine großteils berührende, in Noten gefasste Auseinandersetzung mit den Fragen des Lebens, der menschlichen Bestimmung und der Hoffnungslosigkeit. Gegen das oratorienhafte Werk spricht allerdings die für eine Oper allzu verhaltene, meist in Pianissimo-Tönen ertönende Musik, die sich in Wiederholungen erschöpft, sowie das Fehlen eines dramatischen Handlungsfadens. Doch bot die Inszenierung mit gestaffelten, geschwungenen Zwischenwänden, die zugleich als Projektionsfläche für sowohl abstrakte als auch konkrete Inhalte dienten, dann doch einen spannenden Abend. Dass zum Schluss vier Ärzte auf dem am Operationstisch in einer Zwangsjacke liegenden Semmelweis nach Berührung des Brustkorbs blutige Abdrücke hinterlassen, steht für die Annahme eines gewaltsamen Todes.

Als Semmelweis bot der großgewachsene, überwiegend im Musical-Genre beheimatete Szilveszter P. Szabó mit prägnantem und expressivem Vortrag eine sehr authentisch wirkende Verkörperung der überwiegend im Sprechgesang notierten Partie. Die drei Solo-Frauenstimmen wurden von Tünde Frankó, Enikö Lévai und Veronika Nádasi mit klarer Tongebung werkgerecht dargeboten. Am Pult führte Dániel Dinyés das Kammerorchester des Budapester Operettentheaters und den Béla Bartók Kammerchor von Szlonok zu einer wohl vollkommenen Wiedergabe der Partitur, zeigten sich doch Komponist und Librettist bei den Schlussvorhängen sehr angetan. Als Koproduktion mit dem Budapester Operetten- und Musical-Theater soll das Werk Ende September auf der dortigen Studiobühne aufgeführt werden. Aufgrund der kleinen Besetzung bietet es sich für Kammerspiel-Bühnen auch noch nach dem Semmelweis-Jahr an.

 

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